Die Hoffnung auf gebrauchstaugliche Webinterfaces, die sich automatisch an ihre Nutzer anpassen, begleitet uns seit den Anfängen digitaler Systeme. Mit dem rasanten Fortschritt der Künstlichen Intelligenz (KI) scheint diese Vision erstmals greifbar. Jakob Nielsen hat die Diskussion mit seinem provokanten Statement neu entfacht: „Accessibility has failed.“ Sein Vorschlag? Generative User Interfaces, die sich automatisch an individuelle Bedürfnisse anpassen – individuell, situativ, lernfähig.
Hier stellt sich die Frage: Was bedeutet das für die Umsetzung technischer Barrierefreiheit – und welche Rolle spielt das Usability-Engineering im Zeitalter generativer Systeme?
Was sich durch KI am User Interface „heilen“ lässt
In vielen klassischen Accessibility-Checklisten finden sich Anforderungen, die heute bereits maschinell unterstützt oder sogar vollständig automatisiert umgesetzt werden können.
- Alternativtexte für Bilder: KI-Systeme erkennen Bildinhalte und erzeugen automatisch beschreibende Texte – besonders hilfreich für Screenreader.
- Farbkontraste und Designoptimierung: Tools prüfen Kontraste und schlagen barrierefreie Farbvarianten vor.
- Semantische Struktur: KI erkennt fehlende Überschriftenhierarchien oder beschriftet Formularelemente automatisch.
- Fehlermeldungen und Formularfeedback: Automatisch generierte, verständliche Rückmeldungen für Nutzereingaben.
- Untertitel und Transkripte: KI erstellt präzise Transkriptionen und Untertitel für Videos.
KI kann viele technische Anforderungen der Barrierefreiheit automatisiert umsetzen – und Interfaces gewissermaßen „technisch selbstheilend“ machen.
Was sich nicht heilen lässt – und wo der Mensch gefragt bleibt
- Verständlichkeit ist kontextabhängig: Nur wer den Nutzungskontext kennt, kann Inhalte sinnvoll gestalten.
- Aufgaben statt Funktionen: Nutzer wollen Aufgaben lösen – nicht nur Funktionen nutzen.
- Kontexte sind nicht standardisiert: Nur qualitative Kontexterhebungen zeigen, was wirklich gebraucht wird.
- Soziale und kulturelle Aspekte: Teilhabe braucht mehr als Technik – sie braucht Haltung.
- Feedback und Weiterentwicklung: Gebrauchstauglichkeit entsteht durch menschzentrierte Iteration.
Was bedeutet das für Accessibility-Abteilungen?
Viele klassische Aufgaben der Accessibility – insbesondere technische Zugänglichkeit – können durch KI automatisiert oder vereinfacht werden. Die Umsetzung von Kontrasten, Alternativtexten oder Strukturregeln übernimmt zunehmend die Maschine.
Allerdings ist ebenso festzuhalten: Der Nutzungskontext ist seit jeher Bestandteil sämtlicher relevanter Definitionen von Barrierefreiheit – ob in der EN 301 549, der WCAG, der BITV oder der DIN EN ISO 9241-171. In der Praxis wurde dieser Aspekt jedoch häufig vernachlässigt.
Die Diskussion um KI und generative Interfaces bringt Bewegung: Das, was Usability-Experten seit Langem bemängeln, rückt endlich stärker in den Fokus – nämlich die Frage, welche Erfordernisse digitale Systeme erfüllen müssen, damit sie in konkreten Nutzungssituationen tatsächlich gebrauchstauglich sind.
Der Fokus kehrt also zurück zu einem zentralen Bestandteil: zur fundierten Analyse von Nutzungskontexten, zum Erkennen von Erfordernissen (User Needs) und zum Ableiten der daraus entstehenden Anforderungen. Genau das ist die Aufgabe des Usability-Engineerings.
Zugänglichkeit allein macht ein System nicht gebrauchstauglich. Gebrauchstauglichkeit entsteht, wenn Nutzeraufgabe, Nutzungsbedingungen und Systemdesign zusammenpassen – nicht wenn nur technische Regeln erfüllt sind.
KI macht Interfaces zugänglich. Usability-Engineering macht sie gebrauchstauglich.
Automatisierung wird viele Standards der Barrierefreiheit schneller, präziser und kostengünstiger umsetzen. Das ist ein Fortschritt – und eine Chance.
Doch es bleibt die zentrale Frage: Ist das Interface in der konkreten Nutzungssituation tatsächlich gebrauchstauglich?
Solange diese Frage nicht automatisiert beantwortet werden kann, bleibt die Arbeit von Usability-Experten unverzichtbar. Sie erkennen Erfordernisse, denken aus Sicht der Nutzer, strukturieren Aufgaben und gestalten Schnittstellen zwischen digitaler Technik und realer Lebenswelt.
Wir sind nicht Optimierer von Checklisten – wir sind Gestalter von Lösungen für konkrete Nutzer in konkreten Nutzungskontexten.