Persona-Phantasien: Warum wir nicht für Anna, 32, Digitalstrategin entwickeln sollten

Personas hängen heute überall: auf Postern, PowerPoint-Folien, in Jira-Tickets. „Anna, 32, lebt in der Großstadt, liebt gutes Design, ist digital versiert“ – so oder ähnlich sehen sie aus. Doch viele Personas sind Fiktionen mit freundlichem Gesicht, keine Stellvertreter echter Nutzungskontexte.

Mit dem Aufkommen generativer KI-Tools erleben wir aktuell eine neue Dynamik:
Immer häufiger werden Personas mithilfe von GenAI erstellt – schnell, überzeugend formuliert, visuell ansprechend. Das spart Zeit – aber nicht selten auf Kosten von Substanz.
Das Problem bleibt dasselbe: Produkte werden für Zielbilder entwickelt – nicht für tatsächliche Menschen. Die Folge: Überraschungen im Feld, teure Nachbesserungen, verfehlte Designentscheidungen.

Personas: Was sie leisten könnten – und was sie oft nicht tun

Richtig gemacht, sind Personas ein wertvolles Werkzeug:

  • Sie helfen beim Perspektivwechsel.
  • Sie bündeln Kontextwissen.
  • Sie machen Zielgruppen greifbar.

Aber: Viele Personas beruhen nicht auf empirischer Erkenntnis, sondern auf Annahmen, Wunschbildern oder Marketing-Fantasien. Vor allem sogenannte Ad-hoc-Personas (früher oft als Proto-Personas bezeichnet) sind schnell erstellt – aber selten kontextualisiert.

Der qualitative Kern: Nicht das Drumherum beschreiben – sondern das Tun im Kontext verstehen

In vielen Personas werden Alter, Beruf, Interessen, Geräteeinsatz oder Zitate beschrieben – das „Drumherum“ scheint also berücksichtigt.
Doch was dabei meist fehlt, ist das Verständnis des tatsächlichen Handelns:

Welche Tätigkeiten erledigen Menschen regelmäßig, zielgerichtet und aufgabenbezogen – mit welcher Absicht, unter welchen Bedingungen, und wo genau entstehen dabei Herausforderungen oder Unterstützungsbedarfe?

Dabei geht es zunächst nicht um Nutzer im engeren Sinne interaktiver Systeme.
Es geht um hypothetische Nutzergruppen – also um Aufgabenexpertinnen und -experten, die bestimmte Tätigkeiten kompetent und routiniert ausführen.
Erst später stellt sich die Frage, ob und wie ein System diesen Handlungskontext sinnvoll unterstützen kann.

Nutzungskontext verstehen – nicht nur beschreiben

Der Nutzungskontext ist nach DIN EN ISO 9241-11:2018 definiert als:
„die Kombination von Nutzenden, Zielen und Aufgaben, Ressourcen sowie der Umgebung, in der ein Produkt, System oder eine Dienstleistung verwendet wird.“
Hinweis: Die Umgebung umfasst die technische, physikalische, soziale, kulturelle und organisatorische Umgebung.

Diese Definition macht deutlich: Nutzung ist nie isoliert – sie ist eingebettet in Rahmenbedingungen. Wer eine Persona erstellt, ohne diese Bedingungen zu erfassen, produziert bestenfalls Projektionsfläche – aber keine tragfähige Grundlage für Gestaltung.
Es geht nicht um Demografie. Es geht darum, Aufgaben, Ziele und Bedingungen der Nutzung zu verstehen.

Nur durch ein echtes Verständnis der konkreten Tätigkeiten und ihrer Bedingungen lässt sich entscheiden, ob und wie eine interaktive Lösung überhaupt sinnvoll ist – und welche Anforderungen daraus entstehen.

Erkenntnis entsteht aus qualitativer Erhebung

Ein fundiertes Verständnis dieses Kontexts entsteht nicht durch Beschreibungen auf Folien, sondern durch qualitative Erhebung – insbesondere durch Kontextinterviews.
In diesen Interviews berichten Aufgabenexperten von ihren Tätigkeiten, den Abläufen, Hindernissen und impliziten Routinen – in ihrem realen Handlungsumfeld.

Diese subjektiven Daten sind wertvoll. Sie lassen sich über die Kontextszenario-Methode strukturieren und nachvollziehbar aufbereiten:
Tätigkeiten auf dem Weg zur Zielerreichung werden entlang ihrer Dramaturgie analysiert. Daraus lassen sich Erfordernisse (User Needs), Nutzungsanforderungen (User Requirements) und Kernaufgaben ableiten – empirisch begründet, nicht herbeigeschätzt.

Die Nutzergruppenbeschreibung ist dabei die Grundlage, auf der Personas erstellt werden. Sie ist im Grunde die Auflistung der relevanten Kontextmerkmale aus der Usability-Definition. Unterschiede in diesen Merkmalen führen zu unterschiedlichen Nutzergruppenbeschreibungen – und damit auch zu unterschiedlichen, empirisch fundierten Personas.

KI – ein neuer alter Shortcut

Personas entstehen inzwischen häufig auf Knopfdruck – mithilfe von GenAI.
Viele nutzen generative KI, um Personas schnell und scheinbar mühelos zu erzeugen – teilweise mit beeindruckender Konsistenz und Vielfalt. Die Ergebnisse wirken realistisch, oft sogar differenziert. Was allerdings fehlen kann, bleibt systematisch unsichtbar.

KI ist probabilistisch – sie erzeugt, was häufig ist. Sie erkennt Muster im Bestehenden, nicht im Verborgenen. Sie entdeckt nicht das Überraschende, sondern bestätigt das Erwartbare.
Gerade in frühen Phasen der Produktentwicklung ist aber das noch Unbekannte, das Irritierende, das Unerwartete entscheidend:

  • Wo tun Menschen Dinge anders, als möglicherweise gedacht wird?
  • Welche Erfordernisse und Bedürfnisse zeigen sich erst im Detail der Tätigkeit?
  • Wo entstehen Routinen, Umwege, Friktionen?

Genau dort entsteht Gestaltungsspielraum – und genau dort können KI-generierte Personas versagen, weil sie auf bereits vorhandenen, aber nicht unbedingt zutreffenden Daten basieren.
Und je mehr solcher KI-Personas erzeugt und veröffentlicht werden, desto stärker speist sich die nächste Generation von KI und verstärkt so möglicherweise den Effekt:

Was macht eine Persona belastbar?

In der Praxis begegnen uns zwei grundlegend unterschiedliche Typen – mit ebenso unterschiedlichen Stärken und Schwächen:

Ad-hoc-Personas entstehen schnell: im Workshop, am Whiteboard, aus Bauchgefühl und Erfahrung. Sie helfen Teams, erste Hypothesen zu formulieren oder ein gemeinsames Bild der Zielgruppe zu entwickeln. Doch sie beruhen auf Annahmen – und sind deshalb häufig nicht belastbar, wenn es um konkrete Designentscheidungen geht. Sie geben Orientierung – aber keine empirische Grundlage.

Empirisch entwickelte Personas hingegen basieren auf qualitativ erhobenen Daten – zum Beispiel aus Kontextinterviews. Sie sind aufgabenzentriert, nachvollziehbar und überprüfbar. Ihre Stärke liegt darin, dass sie reale Muster aus tatsächlichem Verhalten verdichten, statt Meinungen oder Rollenbilder zu reproduzieren.

Entscheidend ist: Nicht das Format macht die Persona tragfähig – sondern ihre Herkunft. Nur wer sich auf reale Kontexte stützt, kann zu relevanten Anforderungen gelangen.

Personas sind nur so gut wie ihr Fundament

Personas können Erkenntnisse transportieren – aber sie dürfen Erkenntnisgewinn nicht ersetzen.
Wer mit Personas arbeitet, sollte sich fragen: Ist diese Persona Ausdruck eines verstandenen Kontexts – oder nur ein gut gemeinter Lückenfüller?

Denn: Wir entwickeln nicht für „Anna, 32“. Wir entwickeln für Menschen mit Aufgaben, Routinen, Zielen – in echten Kontexten. Alles andere ist Dichtung oder Theater.

Via: https:/www.fit-fuer-usability.de