Usability neu denken: Menschzentrierung im KI-Zeitalter

Die rasante Entwicklung von GenAI-Systemen wie ChatGPT, Midjourney oder Claude zeigt: Künstliche Intelligenz kann Aufgaben übernehmen, Texte generieren, Entscheidungen vorbereiten. Doch bei aller technologischen Faszination bleibt eine grundlegende Wahrheit bestehen: Die Ziele, Bedürfnisse und Nutzungskontexte von Menschen bleiben weitgehend konstant – selbst wenn sich die Technologien, die wir zur Unterstützung entwerfen, stetig weiterentwickeln.

Deshalb gilt: Human-Centred Design (HCD) bleibt essenziell. Und das bedeutet, dass Prinzipien der Gebrauchstauglichkeit (Usability) auch für KI-Anwendungen nicht nur weiterhin gelten, sondern neu interpretiert und angepasst werden müssen. GenAI erfordert keine völlig neuen Konzepte, sondern die Weiterentwicklung bewährter Prinzipien – und ein tiefes Verständnis für die Beziehung zwischen Mensch und Technologie.

Impulse von Ben Shneiderman: Das HCAI-Framework

Ein wegweisender Denkansatz zur Integration von Usability und KI kommt von Ben Shneiderman. In seinem Beitrag „Human-Centered AI: Three Fresh Ideas“ beschreibt er ein HCAI-Framework (Human-Centered Artificial Intelligence), das drei zentrale Impulse setzt:

  1. Ein Zwei-Dimensionen-Modell, das hohe menschliche Kontrolle und hohe Automatisierung miteinander kombiniert, statt sie gegeneinander auszuspielen.

  2. Ein Perspektivwechsel von der Emulation des Menschen zur Ermächtigung des Menschen. Das bedeutet: KI nicht als „Teamkollege“, sondern als Werkzeug mit klarer Funktion gestalten – ähnlich wie ein intelligenter Staubsauger, kein denkender Assistent.

  3. Ein dreistufiges Governance-Modell für die Entwicklung vertrauenswürdiger KI:
    • Auf technischer Ebene: verlässliche Softwareentwicklung
    • Auf organisatorischer Ebene: Sicherheitskultur und Verantwortung
    • Auf gesellschaftlicher Ebene: Zertifizierungen und Standards

Shneidermans Ansatz bietet eine wohltuende Abgrenzung zu vielen anderen populärwissenschaftlichen Werken zur KI. Während zahlreiche Publikationen entweder euphorisch die Allmacht von KI feiern oder dystopisch ihre Risiken betonen, bietet Shneiderman einen dritten Weg: Er zeigt, wie wir KI gewinnbringend einsetzen, ohne die Kontrolle zu verlieren.

Dabei greift er auf den klassischen Gegensatz zwischen Rationalismus (Regeln, Logik, Formalität) und Empirismus (Beobachtung, Anwendung, Kontext) zurück. Shneiderman überträgt diesen auf die Unterscheidung zwischen Wissenschaft (Erkenntnis) und Innovation (Anwendung):

„Viele KI-Forschende wollen verstehen, wie Menschen denken, um diese Intelligenz zu reproduzieren. Doch die Zukunft liegt in KI, die den Menschen nicht ersetzt, sondern unterstützt.“

Human-Centered AI bedeutet also nicht nur, den Menschen einzubeziehen – es bedeutet, die Technologie als Werkzeug zur Stärkung menschlicher Fähigkeiten zu gestalten. Und genau hier kommt die Usability ins Spiel.

Warum die Mensch-Maschine-Schnittstelle den Unterschied macht

Shneiderman betont: Die Qualität der Mensch-Computer-Schnittstelle entscheidet über den Nutzen der KI. Viele KI-Systeme, die primär wissenschaftlich getrieben sind, haben keine oder schlechte Benutzeroberflächen. Ihre Entscheidungen sind intransparent, schwer nachvollziehbar und oft nicht steuerbar.

Dem gegenüber steht die innovationsgetriebene KI, die auf transparente Steuerung, intuitives Feedback und menschliche Kontrolle setzt. Genau hier schließen die Heuristiken der ISO 9241-110:2020 an: Sie fordern unter anderem, dass Nutzer Fehler verstehen und beheben können, dass sie jederzeit sehen, wo sie sich befinden und welche Optionen ihnen zur Verfügung stehen.

Das macht den Unterschied zwischen einem „black box“-System und einem vertrauenswürdigen KI-Werkzeug.

Die 7 Interaktionsprinzipien – und 65 Heuristiken für gute Gestaltung

Ein stabiler Bezugsrahmen ist die DIN EN ISO 9241-110:2020, die sieben grundlegende Interaktionsprinzipien beschreibt:

  1. Aufgabenangemessenheit
  2. Selbstbeschreibungsfähigkeit
  3. Steuerbarkeit (inkl. Individualisierbarkeit)
  4. Erwartungskonformität
  5. Robustheit gegen Benutzungsfehler (Fehlertoleranz)
  6. Erlernbarkeit (Lernförderlichkeit)
  7. Benutzerbindung

Insgesamt enthält die Norm 65 konkrete Empfehlungen im Anhang, die als Heuristiken zur Bewertung und Gestaltung interaktiver Systeme dienen. Diese Empfehlungen sind keine veralteten Checklisten, sondern zeitlose Gestaltungsregeln, die auch auf KI-Systeme angewendet werden können – mit Blick auf Transparenz, Steuerbarkeit, Feedback oder die Erkennbarkeit von Systemzuständen.

Gerade bei generativen KI-Systemen stellt sich die Frage: Wie können Nutzer ihre Absicht klar kommunizieren? Wie viel Kontrolle haben sie über automatisierte Prozesse? Und wie lassen sich Fehler, Missverständnisse oder Risiken erkennen und vermeiden? All das sind klassische Usability-Fragen – und sie sind aktueller denn je.

Usability ist kein Anachronismus, sondern die Zukunftssicherung für KI

GenAI-Modelle brauchen keine neuen Regeln – sie brauchen eine Weiterentwicklung bewährter Prinzipien. Wer interaktive KI-Systeme gestaltet, sollte nicht nur auf technische Möglichkeiten schauen, sondern auf die Nutzungswirklichkeit der Menschen.

Die 65 Empfehlungen der DIN EN ISO 9241-110:2020 helfen, diese Nutzungsperspektive strukturiert umzusetzen und einen robusten, zukunftsorientierten Gestaltungsrahmen zu kreieren, der auch für GenAI gilt:

„Nicht der Mensch soll sich an die KI anpassen, sondern die KI an den Menschen.“

Denn die zentrale Herausforderung bleibt: Wie gestalten wir Systeme, die leistungsfähig UND menschenfreundlich sind? Die Antwort liegt nicht allein in Algorithmen, sondern in Empathie, Struktur und menschzentrierter Gestaltung.